Hans-Jürgen Joseph
Hans-Jürgen Joseph: Antifaschismus als täglicher Arbeitsgegenstand.
Ein Erfahrungsbericht über Rechtsprechung in der DDR.
Hans-Jürgen Joseph ist Jurist. Er war von Januar bis Juni 1990 Generalstaatsanwalt der DDR. In den Jahren zuvor war für die Zusammenarbeit mit der westdeutschen Justiz zuständig.

Biografische Angaben

Am 28.10.1950 wurde ich in Riesa an der Elbe geboren. Mein Vater war zu dem Zeitpunkt Stahlwerker im Stahl- und Walzwerk Riesa; meine Mutter hatte eine Beschäftigung in einer Gärtnerei.

Im Rahmen der Aktion „Industriearbeiter aufs Land“ erfolgte ein Wohnungswechsel nach Krieschow, einem Dorf im Landkreis Cottbus. 1957 wurde ich dort eingeschult. Da die MTS (Maschinen- und Traktorenstation) aufgelöst wurde und mein Vater Arbeit im Staatlichen Forstwirtschaftsbetrieb Lübben fand, zogen wir nach Lübben in den Spreewald. Dort besuchte ich die Oberschule II bis zur achten Klasse. Von 1965-1969 ging ich zur EOS Lübben (Goethe Schule), wo ich mein Abitur machte.

Von 1969-1972 war ich Angehöriger der Deutschen Volkspolizei. Ursprünglich wollte ich Kriminalistik studieren. 1972 beendete ich bei der Polizei meinen Dienst und nahm ein Studium der Staats- und Rechtswissenschaft in Jena auf. Zwischen der Sektion Staats- und Rechtswissenschaft und dem Generalsstaatsanwalt der DDR gab es einen Kooperationsvertrag. Ehemalige Staatsanwälte verstärkten den Lehrkörper. Die juristische Ausbildung orientierte sich am Berufsziel des Staatsanwalts.

Nach meinem Studium war eine wissenschaftliche Laufbahn geplant. Ich war Assistent im Bereich Strafrecht/Strafprozessrecht/Kriminologie (später  Bereich Kriminalitätsbekämpfung). Neben Aufgaben in der Lehre, schrieb ich an einer Dissertation.

Von 1977-1981 wohnte ich mit meiner Familie in Jena. Damals hatten wir zwei Söhne. Meine Frau war Lehrerin. Aus verschiedenen Gründen entschlossen wir uns, wieder nach Cottbus zurückzugehen.

Ich wurde Staatsanwalt beim Staatsanwalt Cottbus-Stadt. Mein vorrangiges Arbeitsgebiet war die sogenannte allgemeine Kriminalität (Eigentumsdelikte, Sexualdelikte, Körperverletzungsdelikte, Straftaten im Bereich des Arbeitsschutzes).

1984 wurde mir das Angebot unterbreitet, Staatsanwalt beim Generalstaatsanwalt Abteilung Internationale Verbindungen zu werden. Die Versetzung nach Berlin sollte am 1.9.1984 erfolgen. Da für mich eine Versetzung erst infrage kam, wenn ich eine Wohnung für unsere nunmehr fünfköpfige Familie habe, verzögerte sich der Wechsel zur Generalstaatsanwaltschaft bis Februar 1985.

In der Abteilung Internationale Verbindungen war ich zuständig für den Rechtsverkehr mit der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere mit Hamburg, Bayern und Berlin West. Mein Abteilungsleiter war Carlos Foth und mein Sektorenleiter Günther Wieland. Zu meinem Sektor gehörte auch Staatsanwalt Gerhard Ender. Diese drei Staatsanwälte gestalteten ab 1960 maßgeblich den Rechtsverkehr mit der Bundesrepublik Deutschland.

Ein Hauptschwerpunkt des Rechtsverkehrs bestand in der Aufklärung und Ahndung von Nazi- und Kriegsverbrechen. Ich selbst war in diesen Aufgabenbereich nicht involviert. Trotz alledem nahm diese Arbeitsgegenstand einen bedeutsamen Raum in Dienstberatungen und Diskussionen ein. Überwiegend war man natürlich als junger Staatsanwalt interessierter Zuhörer.

Insbesondere durch das Wirken von Carlos Foth, Günther Wieland und Gerhard Ender war die Abteilung im besonderen Maße „antifaschistisch“ ausgerichtet.

Die Abteilung Internationale Verbindungen gehörte zum Bereich II des Generalstaatsanwalts. Zu diesem Bereich gehört auch die Abteilung 1A, die speziell für die Aufklärung von Nazi- und Kriegsverbrechen im Inland zuständig war. Mit dieser Abteilung gab es ebenso wie mit dem Untersuchungsorgan des Ministeriums für Staatssicherheit Hauptabteilung IX eine enge Zusammenarbeit.

Spektakuläre Verfahren, die ich bearbeitet habe, waren die Fälle Frank Weißgerber und Massny.

Weißgerber hatte zusammen mit Jabusch 1982 den Schäfer Ingolf Hauser getötet. Die Leiche wurde in der Nähe eines Flüsschens vergraben. Weißgerber floh in die Bundesrepublik Deutschland. Er wurde zunächst als Held gefeiert, dem es gelungen war, die „unmenschliche“ Grenze zu überwinden.

DDR-Bürger, die in die Bundesrepublik Deutschland reisen konnten, teilten dortigen Polizeidienststellen mit, dass Weißgerber in der DDR jemand ermordet haben könnte. Als die Sache zwischen Ost und West ins Rollen kam, gab es im Pausengespräch anlässlich eines Zusammentreffens der Delegationen zur Ausarbeitung eines Rechtshilfevertrages die Überlegung, wie im Fall Weinhold ein Beweissicherungsverfahren in der DDR vor dem zuständigen Bezirksgericht im Beisein westdeutscher Juristen (zuständige Staatsanwalt, Verteidiger in der Bundesrepublik, Nebenklagevertreter) durchzuführen. Die Dokumente des Beweissicherungsverfahren haben dann Günther Wieland und ich im September 1985 dem Hamburger Generalstaatsanwalt übergeben.

Der Fall Massny war ebenso gelagert. Massny war Grenzsoldat und hatte seinen Postenführer hinterrücks mit einer MP-Salve niedergeschossen und ist dann im Raum Hildburghausen in die Bundesrepublik geflüchtet.

Für das Beweissicherungsverfahren vor dem Bezirksgericht Leipzig hatte ich staatsanwaltschaftlicherseits die Hauptverantwortung.

Die Beweisdokumente habe ich im Herbst 1987 dann ebenfalls gemeinsam mit Günther Wieland dem Bamberger Generalstaatsanwalt. Zu dieser Zeit weilte Erich Honecker in der BRD. Die Verhandlungen waren ausgesprochen freundlich und aufgeschlossen. Es gab sogar eine Stadtführung.

Massny wurde als erste Grenzsoldat der NVA wegen versuchten Mordes verurteilt.

An sich war die Rechtslage völlig klar. Bei Weinhold, Weißgerber und Massny lag eindeutig Mord vor. Weinhold hatte die Soldaten Lange und Seidel hinterrücks mit MP- Salven erschossen. Während der gesamten Zeit musste sich DDR mit folgender westdeutscher Rechtsposition auseinandersetzen:

Fünf Tage vor dem Doppelmord Weinholds an zwei DDR Grenzsoldaten hatte der Sprecher der CDU-Fraktion im Bundestag, Manfred Abelein, über die Medien verbreitet: „Wer aus der DDR flieht, übt sein Recht auf Freizügigkeit in Notwehr aus.“

Der Leiter der Zentralstelle in Salzgitter, Oberstaatsanwalt Carl Hermann Reteymeyer, erklärte auf den Fall Weinhold bezogen vor der Presse sogar: „Jeder DDR-Bürger, der in die Bundesrepublik fliehen will, hat das Recht, sich zu bewaffnen und, wenn er in seiner Freizügigkeit gehindert wird, dieser Waffe einzusetzen“. (Frankfurter Rundschau vom 14. Juni 1976).

Es gehörte schon für die Staatsanwälte und Richter der BRD Zivilcourage dazu, sich über diese abstrusen Rechtspositionen der offiziellen BRD hinwegzusetzen!

Mit Perestroika und Glasnost spürte man auch in der DDR gesellschaftliche Veränderungen, die nicht mehr auf eine Handvoll Leute beschränkt blieb. Auch unter SED-Mitgliedern wurde diese neue Linie der KPdSU kontrovers diskutiert. Auch das Dialogpapier zwischen SED und SPD spielte eine Rolle.

Spätestens im Frühjahr 1989 wurde  die Gesellscchaftskrise in der DDR sichtbar.

Die Kommunalwahlen wurden hinterfragt. Anzeigen wegen Wahlfälschung wurden nicht bearbeitet, sondern sogar als rechtswidrig skandalisiert. Die Sprachlosigkeit der Partei- und Staatsführung tat ihr übriges.

Die Forderung nach einer Neugestaltung der DDR wurde lauter, auch unter Mitgliedern der SED.

Die DDR steckte in der größten Krise ihres Bestehens. Montags- und Sonntags- Demonstrationen, Strafanzeigen gegen Funktionäre, Forderungen nach Meinungs- und Pressefreiheit, nach Wirtschaftsreformen usw. nahmen zu.

Die heißeste Phase begann dann im Oktober, November und Dezember 1989. Zu der Zeit war ich noch Staatsanwalt in der Abteilung Internationale Verbindungen. Schalk setzte sich nach Westberlin ab. Ich war mit der Erstellung eines internationalen Haftbefehls und Auslieferungsersuchen befasst. Als ich am 6. oder siebten Dezember 1989 persönlich ein Auslieferungsersuchen an den Westberliner Generalstaatsanwalt übergeben hatte, erklärte mir ein von ihm Beauftragter, dass Schalk sich im dortigen Dienstgebäude befinden würde, ich ihn aber nicht bekommen würde.

Die Generalsstaatsanwälte Wendland und Borchert traten zurück. Als dritter rückte Georg Hertzberg nach, der nach zwei Wochen die Segel strich. Dann wurde Harri Harrland amtierender Generalstaatsanwalt und verblieb in der Funktion bis zu meiner Wahl zum Generalstaatsanwalt am 10. Januar 1990.

Während meiner Dienstzeit als Generalstaatsanwalt hatte ich den Direktor des USA-Justizministeriums und Leiter des Büros des Office auf Special Investigation (OSI), der Behörde des US-Justizministeriums, die sich mit der Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen befasst, Neal M. Sher und seine Stellvertreterin Ellie M. Rosenberg empfangen. Sie bedanken sich für die bisher gewährte Rechtshilfe bei der Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechen und brachten die Hoffnung zum Ausdruck, dass auch nach dem Beitritt der DDR zur  BRD die Ahndung von Naziverbrechen „nach den in Ostdeutschland geltenden völkerstrafrechtlichen Normen gewährleistet sein möge“.

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